Wie sich KMUs durch „Schnupperkurse“ und die passende „Chemie“ an neue Märkte herantasten

von | 9. Nov 2022 | Betriebswirtschaft und Management, Denk- und Arbeitsweise, Internationales

Lesezeit: 3 Min. | Aktualisiert am 22. März 2023

Wozu expandieren?

Warum streben kleinere und mittlere Unternehmen (KMUs) Expansionen in Auslandsmärkte an?

Es stehen zwei Motive im Vordergrund.

Erstens:

Einnahmen aus zusätzlichen Märkten können helfen, Probleme im Heimatmarkt oder anderswo abzufedern. Grundsätzlich gilt: Durch internationale Diversifikation und Umsatzsteigerung wird das gesamtunternehmerische Risiko vermindert.

Zweitens:

Skaleneffekte: Produktentwicklung und andere Fixkostenbereiche verursachen bei höherem Gesamtumsatz weniger Stückkosten.

Übrigens: Aufgrund oftmals kleiner nationaler Märkte expandieren europäische Unternehmen 19x schneller als US-amerikanische. (Robert Vis, Forbes, 4. April 2019).

Wie schwer sind internationale Expansionen für KMUs?

Alle beteiligten Personen − Unternehmensinhaber, Geschäftsleiter, Manager, Juristen und Berater − finden in der internationalen Expansion ein herausforderndes und spannendes Tätigkeitsfeld.

Die bei Expansionsvorhaben zu beachtenden wirtschaftlichen, rechtlichen und steuerlichen Gesichtspunkte und die miteinander zu vernetzenden Disziplinen sind mannigfaltig. Sie umfassen insbesondere:

  • Internationales Projektmanagement
  • Internationales und ausländisches Recht des geistigen Eigentums (IP)
  • Marktzugangsbeschränkungen, Einwanderungsrecht und Zollfragen
  • Normierungsfragen
  • Verbraucher- und Datenschutz im Zielmarkt
  • Internationales Marketing
  • Internationaler Vertrieb
  • Internationale Logistik
  • Personalfragen im Heimat- und Zielmarkt
  • Internationales und ausländisches Steuerrecht
  • Internationales und ausländisches Kartell- und Wettbewerbsrecht
  • Internationales und ausländisches Privat- und Gesellschaftsrecht
  • Finanzen (international).   

Die Aufzählung ist selbstredend: Ein internationales Expansionsprojekt kann für KMUs schnell komplex bis hochkomplex werden.  

Das bedeutet:  Ganz am Anfang des Projekts sollte ein durchdachter Projektstrukturplan (work breakdown structure) erstellt werden.

Komplexität hängt von der gewählten Markteintrittstechnik ab

Die Komplexität der Herausforderungen hängt zunächst ab von dem jeweils zu vertreibenden Produkt bzw. der jeweils zu vertreibenden Dienstleistung. Grundsätzlich bestehen erhebliche Unterschiede zwischen digitalen Produkten und Dienstleistungen einerseits und physisch zu erbringenden Lieferungen und Leistungen andererseits.

Darüber hinaus richtet sich die Komplexität auch nach der für den Zielmarkt gewählten Markteintrittstechnik.

Nachfolgend findet sich eine Auflistung der üblichen Markteintrittstechniken, wobei die wirtschaftliche, rechtliche und steuerliche Komplexität in der Regel von oben nach unten zunimmt (über die genaue Rangfolge lässt sich im Einzelfall trefflich streiten):

1. Grenzüberschreitende Werbung und Angebotsplatzierung (über das Internet etc.) mit Fokus auf Kunden im Zielmarkt;

2. Einschaltung von Business-Development-Beratern bzw. Mitarbeitern im Zielmarkt (Außenhandelskammern und mehr);

3. Errichtung eines Warenlagers im Zielmarkt (hilft nur bei Warenverkauf – nicht bei Dienstleistungen);

4. Einschaltung eines Handelsvertreters bzw. eines Wiederverkäufers im Zielmarkt;

5. Beschäftigung eines oder mehrerer Remote-Arbeitnehmer im Zielmarkt (Home-Office, Co-Working, Monteure);

6. Vertragliches Joint Venture mit Partnern im Zielmarkt;

7. Franchising im Zielmarkt;

8. Eröffnung einer Repräsentanz im Zielmarkt;

9. Joint Venture im Zielmarkt;

10. Erwerb eines Wettbewerbers im Zielmarkt (M&A); und

11. Eigenständiger (organischer) Aufbau einer Tochtergesellschaft im Zielmarkt.

Expansionsmanagement: Zuerst ein „Schnupperkurs“

Alle Expansionsvorhaben sind Projekte und keine Routineaufgaben.

Der Projektcharakter bedeutet: Mit dem gewohnten Geschäftsprozess-Management kommen KMUs nicht weiter. Nötig sind Projektmanagement und auslandsbezogenes Produktmanagement.

Die Projektsteuerung muss sich gemäß dem magischen Dreieck an den drei Zielen Qualität, Zeit (d.h. Rechtzeitigkeit) und Geld (d.h. Budgetgerechtigkeit) orientieren.

Grundsätzlich gilt: Je höher die Komplexität (siehe oben) und je höher die Qualitätsanforderungen, desto großzügiger müssen die Faktoren Zeit und Geld bemessen werden.

Aus gutem Grund zögern KMUs bei der Wahl komplexerer Markteintrittstechniken: Deren qualitativ hochwertige Umsetzung kostet sie zwangsläufig erhebliche Ressourcen an Zeit und Geld.

Sinnvoll ist es in jedem Fall, einen neuen Markt zunächst über Testmarketing kennenzulernen und die Akzeptanz des eigenen Produkts oder der eigenen Dienstleistungen im Zielmarkt zu testen. Nicht selten stellt sich heraus, dass eine Anpassung an die lokalen Gegebenheiten (sog. Lokalisierung) notwendig ist. Durch vorgelagerte „Schnupperkurse“, z.B. sozioökonomisch fokussierte Verkaufsaktionen, gewinnt das Unternehmen in der Regel einen guten ersten Eindruck, um zu entscheiden, ob es den jeweiligen Markt weiter bearbeiten will oder nicht.

Sofern sich das KMU für „weiterbearbeiten“ entscheidet, kann es die eigentliche Expansion starten. Hier bieten sich auf den Zielmarkt fokussierte digitale Marketing & Sales-Aktivitäten an, ggf. mit Hilfe von Marketing-Beratern und/oder die Unterstützung durch Handelsvertreter.

Marketing-Berater helfen bei der Ausarbeitung und laufenden Überprüfung und Anpassung einer Markteintrittsstrategie.

Handelsvertreter vertreiben weitgehend autonom, müssen also nicht zeitaufwendig überwacht werden; und sie müssen im Übrigen nur erfolgsabhängig vergütet werden. Die Ausgleichszahlung nach § 89b HGB bzw. nach Parallelvorschriften in anderen Ländern erscheint auf den ersten Blick schwer akzeptabel. Auf den zweiten Blick muss die Ausgleichszahlung aber nur dann in erheblicher Höhe gezahlt werden, wenn der Zielmarkt nachweislich über Kundenbasis und Potenzial verfügt.

Schließlich ist die Ausgleichszahlung verhandelbar: Möglicherweise ist ein erfolgreicher Handelsvertreter auch ein geeigneter Geschäftsführer für ein Joint Venture oder eine Auslandstochtergesellschaft. Manchmal ist die Aussicht auf eine Position als „Landeschef“ in einem attraktiven Segment ein triftiger Grund für den bisherigen Handelsvertreter, bei der Ausgleichszahlung Abstriche zu machen.

Erfahrungsgemäß kommt es im KMU-Sektor hauptsächlich auf die Schaffung von dauerhaften Geschäftsbeziehungen und von Win-Win-Situationen an − und weniger auf die formalrechtliche Ausgestaltung.

Die Bedeutung der zwischenmenschlichen „Chemie“

Die vorstehenden Ausführungen legen nahe, dass

  • der Schritt zu komplexeren Markteintrittstechniken in vielen Fällen abgestuft erfolgen kann (von einfachen Techniken zu komplexeren); und dass
  • Schlüsselpersonal beim Umsteigen auf komplexere Techniken erhalten bleiben kann.

Die meisten Expansionsvorhaben sind ein people business: Neben der passenden Markteintrittstechnik und -strategie ist die zwischenmenschliche und synergetische Ebene entscheidend.

Die Inhaber und Manager von expandierenden KMUs sollten sich bemühen, grenzüberschreitend langfristig tragfähige persönliche Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen. Wichtig ist vor allem ein passendes Mindset. Mängel im Skillset können − in Grenzen − ausgeglichen werden.

Fazit

Mit Geschick bei Wahl, Mischung und Steuerung von Markteintrittstechniken und guter zwischenmenschlicher „Chemie“ über die Grenze, meistern KMUs auch schwierige Expansionsvorhaben.

Artikelbild: Foto von NASA auf Unsplash

Porträt Dr. Mark Odenbach

Autor: Dr Mark Odenbach

Dr. Mark Odenbach ist ein wirtschaftsrechtlicher Strukturierer, Vertragsgestalter und Wirtschaftsanwalt mit internationaler Ausrichtung. Er arbeitet mehrsprachig.

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 Aktualisiert am 22. März 2023

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