Vertragsgestaltung nach dem Baukastenprinzip

von | 14. Sep 2020 | Vertragsgestaltung und -verhandlung, Zivil- und Wirtschaftsrecht

Lesezeit: 4 Min. | Aktualisiert am 27. Juni 2021

Zur Anatomie der Wirtschaftsverträge: Nach Auffassung des Autors gibt es 20 (=1+19) verschiedene Komponenten, aus denen ein Wirtschaftsvertrag zusammengestellt werden kann.

Einleitung

In der angelsächsischen Fachwelt ist anerkannt, dass bei der Gestaltung von Wirtschaftsverträgen auf eine Reihe von Modulen (Komponenten) zurückgegriffen kann und dass insgesamt nach dem Baukastenprinzip gearbeitet werden sollte.

Insbesondere besteht in der anglophonen Welt Einigkeit,

  • dass es einerseits vertragstypspezifische Module (oder Komponenten) gibt, die einem Wirtschaftsvertrag sein besonderes Gepräge verleihen (dies sind insbesondere die Regelungen zu den Hauptleistungspflichten und zu den Nebenleistungspflichten) und die für die rechtliche Einordnung (characterisation) des Vertrages maßgeblich sind; und
  • dass einem Vertragsgestalter andererseits allgemeine Module (oder Komponenten) zur Verfügung stehen, die in mehreren oder sogar in jedem Wirtschaftsvertrag verwendet werden können. (Eine Gerichtsstandvereinbarung kann z.B. in jedem Typus von Wirtschaftsvertrag verwendet werden.)

Klauseln aus der zweitgenannten Gruppe werden auf Englisch boilerplate clauses genannt.

Nach Auffassung des Autors können unter Anwendung deutschen Rechts Wirtschaftsverträge aus bis zu 1 +19 (= 20) verschiedenartigen Komponenten bestehen.

Die Komponente gemäß der vorangestellten Nr. 1 tritt vor allem in Entwürfen von Verträgen in Erscheinung. Die anderen 19 Komponenten kommen in Entwürfen und in unterschriebenen – d.h. in in Kraft gesetzten (= „scharf geschalteten“) – Vertragsdokumenten vor.

Vorgezogene Nr. 1

Mit der vorgezogenen Nr. 1 ist hier der Statusvermerk gemeint. Dieser gibt – wenn optimal gestaltet – Auskunft über:

  • den Umstand, dass es sich bei dem Vertragstext noch um einen unverbindlichen Entwurf handelt,
  • das Datum, an dem der Entwurf erstellt wurde,
  • die in aufsteigender Zahl angegeben Versions-Nummer des jeweiligen Vertragsentwurfs,
  • den Autor, der den Entwurf verantwortet (letzter Autor), und die Organisation, für die er tätig ist,
  • die Frage, ob der Entwurf noch unter Vorbehalt steht (z.B. zur Qualitätskontrolle oder zur Abstimmung mit der Mandantschaft) oder nicht.

Ein geeigneter Ort für den Statusvermerk befindet sich ganz oben rechts auf S. 1 des Entwurfs – direkt über dem Titel des betreffenden Vertragsdokumentes. Optisch ansprechend ist es, wenn der Statusvermerk rechtsbündig und mit einzeiligem Zeilenumbruch geschrieben wird. Es sollte für den Statusvermerk auch eine etwas kleinere Schriftgröße als für den eigentlichen Vertragstext gewählt werden.

Beispiel:

7. Entwurf
08.09.2020
Mark Odenbach/Barber Odenbach
vorbehaltlich interner Qualitätskontrolle/
noch Abstimmung mit Mandant erforderlich

15.000.000,00 € Darlehensvertrag

mit qualifiziertem Rangrücktritt
zwischen
[…]

Gewöhnlich fallen bei der Verhandlung und Gestaltung von komplexen Verträgen eine Reihe von Vertragsentwürfen an.

Ordnungsgemäß erstellte Statusvermerke helfen, die verschiedenen Entwürfe entstehungsgeschichtlich richtig einzuordnen und voneinander zu unterscheiden.

Die Entstehungsgeschichte eines Vertrages ist für dessen Auslegung relevant (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs). Daher legen Parteien in gerichtlichen Vertragsstreitigkeiten häufig einen oder mehrere Vertragsentwürfe vor – als Beweisantritt dafür, dass ihre Darstellung der Entstehungsgeschichte richtig sei.

Sorgfältig verfasste Statusvermerke erleichtern es dem Gericht und den Parteien, die Stellung des Entwurfs innerhalb der Chronologie der Vertragsentwicklung schnell und richtig zu erfassen. Vorbildlich erstellte Statusvermerke reduzieren im Gerichtsprozess den schriftsätzlichen Darlegungsaufwand. Auch wird bei einem klar bezeichneten Statusvermerk der Versuchung, einem Entwurf nachträglich eine bestimmte Stellung innerhalb der Entstehungsgeschichte „anzudichten“, Einhalt geboten.

Sobald ein Vertrag unterschriftsreif ist, kann der Statusvermerk in „Unterschriftenfassung“ geändert werden. Alternativ kann er gelöscht werden.

Die anderen 19 Komponenten

  1. Titel und ggf. Untertitel des Vertragsdokumentes[1]
  2. Rubrum (d.h. Angaben zu den Parteien und deren jeweiligen Identifikationsmerkmalen)
  3. Datum des Vertrages und – falls abweichend – Datum des Inkrafttretens
  4. Präambel
  5. Überleitungssatz (leitet über zum eigentlichen Vertragsinhalt)
  6. Benennung des Vertragsgegenstandes und des Vertragstypus
  7. Definitionen
  8. (Aufschiebende und auflösende) Bedingungen
  9. Vertragstypische Hauptleistungspflicht(en) und sonstige wesentliche (synallagmatische) Pflichten der Partei, welche die vertragstypischen Hauptleistungen zu erbringen hat
  10. Ggf. Entgelt bzw. Gegenleistung und sonstige wesentliche (synallagmatische) Pflichten der anderen Vertragsseite
  11. Verfügungen und Leistungen
  12. Sonstige (nicht synallagmatische) Pflichten
  13. Schutzpflichten[2]
  14. Regelungen zur Beendigung des Vertrages (namentlich zur Kündigung und zum Vorgehen nach Kündigung)
  15. Schlussbestimmungen
  16. Schlusssatz (Schnittstelle zwischen dem eigentlichen Vertragsinhalt und den Unterschriften)
  17. Unterschriftenblöcke
  18. Anhänge[3]
  19. Anlagen[4]

Anmerkungen zu den anderen 19 Komponenten

Bei den anderen 19 Komponenten richtet sich die Konzentration der Kaufleute für gewöhnlich auf die Komponenten Nr. 1 und 2 und Nr. 8 bis 11. Diese kaufmännisch besonders relevanten Komponenten nennen wir die wirtschaftsrechtlichen Kernkomponenten der Wirtschaftsverträge. Insbesondere Komponente Nr. 9 gibt dem Vertrag sein spezifisches Gepräge und ist für die Typisierung des Vertrages relevant.

In die anderen Komponenten – die allgemeinen Komponenten – investieren rein wirtschaftlich denkende Vertragsverantwortliche selten Zeit und geistiges Kapital.

Nichtdestotrotz können die allgemeinen Komponenten (oder ihr Fehlen) über den wirtschaftlichen Ausgang und die wirtschaftlichen Folgen eines Geschäfts (einschließlich seiner Begleitkosten) entscheiden. Erfahrene wirtschaftsrechtliche Vertragsgestalter legen daher zu Recht auf die bewusste und gezielte Nutzung allgemeiner Komponenten großen Wert.

Bei den Dokumentationsstilen ist zwischen durch Briefwechsel abgeschlossenen Verträgen (letter agreements), Kurzform-Verträgen (short form agreements) und Langform-Vertragswerken (long form agreements) zu unterscheiden. Je nach Dokumentationsstil werden allgemeine Komponenten mehr oder weniger ausgiebig verwendet:

  • Bei durch Briefwechsel abgeschlossenen Verträgen (oder durch kaufmännische Bestätigungsschreiben bestätigte Verträge) fehlen allgemeine Komponenten meist gänzlich.
  • In Kurzform gestaltete Verträge enthalten im Regelfall sehr wenige allgemeine Komponenten (oft nur salvatorische Klausel und Gerichtsstand).
  • Langform-Verträge, die vor allem für bedeutsame Deals entworfen werden, enthalten deutlich mehr allgemeine Komponenten. Der Umfang der allgemeinen Komponenten hängt u.a. davon ab, inwieweit das anwendbare Gesetz grobmaschig und daher durch vertragliche Abreden ergänzt werden soll und inwieweit das anwendbare Recht Zweifelsregelungen enthält, die (bei verständiger Würdigung) zur Klarstellung auffordern. Relevant ist auch, inwieweit das Gesetz abdingbares oder nicht abdingbares Recht vorgibt. Wirtschaftliche erfahrene und in wirtschaftlichen Risikokategorien denkende Juristen verwenden mehr allgemeine Komponenten als rein rechtlich denkende Kollegen.
Fußnoten

[1] Fällt weg bei notariellen Urkunden – dort ist die UR-Nr. der maßgebliche „Aufhänger“.

[2] § 241 Abs. 2 BGB

[3] Anhänge enthalten zur Verschlankung ausgelagerte Detailregelungen des Vertrages

[4] Anlagen sind in der Regel Bezugsdokumente, die für die Verständnis und Auslegung des Vertrages bzw. der zum Vertragsschluss vorliegenden Tatsachen hilfreich sind.

Porträt Dr. Mark Odenbach

Autor: Dr Mark Odenbach

Dr. Mark Odenbach ist ein wirtschaftsrechtlicher Strukturierer, Vertragsgestalter und Wirtschaftsanwalt mit internationaler Ausrichtung. Er arbeitet mehrsprachig.

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 Aktualisiert am 27. Juni 2021

Über Situation Law

Situation Law ist ein Blog über Deal-Situationen und über die in solchen Situationen zielführende Denk- und Arbeitsweise. Zu den Schwerpunkten des Blogs gehören die Strukturierung, Gestaltung und Verhandlung von situationsgerechten Wirtschaftsverträgen.