BGH VII ZR 222/12: „Aushandeln im Einzelnen“ als sicherer Hafen (§ 305 Abs. 1 Satz 3 BGB)?

von | 21. Okt 2020 | Urteilsbesprechungen, Vertragsgestaltung und -verhandlung, Zivil- und Wirtschaftsrecht

Lesezeit: 4 Min. | Aktualisiert am 18. Dezember 2020

In diesem Beitrag erörtert der Autor, welche Möglichkeiten die viel diskutierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs BGH VII ZR 222/12 Parteien gibt, sich über das Tatbestandsmerkmal des „Aushandelns im Einzelnen“ (§ 305 Abs. 1 Satz 3 BGB) in einen AGB-rechtlich sicheren Hafen zu begeben.

AGB-Recht

Wer bei der Gestaltung und Verhandlung von Verträgen „für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen“ (siehe § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB: „Allgemeine Geschäftsbedingungen“, kurz „AGB“) verwendet, muss sich fragen, ob seine AGB dem AGB-Recht der §§ 305 ff. BGB standhalten.

Insbesondere muss sich der Verwender fragen, ob er überraschende Klauseln stellt, die ggf. nicht Vertragsbestandteil würden (§ 305c BGB) oder, ob die AGB im Rahmen einer Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB für nichtig erklärt werden könnten.

Relevanz des AGB-Rechts bei der Strukturierung und Gestaltung von situationsgerechten Wirtschaftsverträgen

Soweit die zu strukturierende und zu gestaltende Deal-Situation von den üblichen Konstellationen, welche der Gesetzgeber bei Schaffung des dispositiven Rechts vor Augen hatte, abweicht, entsteht bei Vertragsparteien rasch der Wille, im Sinne der Vertragsfreiheit vom dispositiven Gesetzesrecht abweichende Regelungen zu treffen.

Da solche abweichenden vertraglichen Regelungen leicht zu Problemen nach AGB-Recht führen können – hier stellt die Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB die höchste Hürde dar – ist es aus Sicht des Klauselverwenders erstrebenswert, die Anwendbarkeit des AGB-Rechts ab initio in gesetzeskonformer Weise zu vermeiden. Dabei darf der Verwender keinesfalls das AGB-Recht durch anderweitige Gestaltungen umgehen (§ 306a BGB).

„Aushandeln im Einzelnen“ ist nach dem Wortlaut des § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB sicherer Hafen

§ 305 Abs. 1 Satz 3 BGB lautet (Hervorhebungen durch den Autor):

„Allgemeine Geschäftsbedingungen liegen nicht vor, soweit die Vertragsbedingungen zwischen den Vertragsparteien im Einzelnen ausgehandelt sind.“

Mit § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB stellt der Gesetzgeber einen sicheren Hafen (safe harbour) zur Verfügung, der vor aus dem AGB-Recht drohenden „juristischen Unwettern“ zu schützen scheint. „Aushandeln im Einzelnen“ führt nach dem Willen des Gesetzgebers zur Verneinung von AGB, infolgedessen es gar nicht erst zu einer Anwendbarkeit des AGB-Rechts kommen kann.

BGH VII ZR 222/12 zu „Aushandeln im Einzelnen“

In seiner viel diskutierten Entscheidung VII ZR 222/12 nimmt der BGH wie folgt zu § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB und dem Tatbestandsmermal des „Aushandelns im Einzelnen“ Stellung (Hinzufügungen in eckigen Klammern und Hervorhebungen durch den Autor):

Randnummer 10:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert Aushandeln [im Einzelnen] gemäß §305 Abs.1 Satz 3 BGB mehr als Verhandeln. Von einem Aushandeln [im Einzelnen] in diesem Sinne kann nur dann gesprochen werden, wenn der Verwender zunächst den in seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthaltenen gesetzesfremden Kerngehalt, also die den wesentlichen Inhalt der gesetzlichen Regelung ändernden oder ergänzenden Bestimmungen, inhaltlich ernsthaft zur Disposition stellt und dem Verhandlungspartner Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener Interessen einräumt mit zumindest der realen Möglichkeit, die inhaltliche Ausgestaltung der Vertragsbedingungen zu beeinflussen (BGH, Urteil vom 23. Januar2003 -VIIZR210/01, BGHZ 153, 321; Urteil vom 16.Juli 1998 -VIIZR9/97, BauR1998,1094,1095 = ZfBR1998,308; Urteil vom 26. September1996 – VIIZR318/95, BauR1997,123,124 = ZfBR 1997,33). Er muss sich also deutlich und ernsthaft zur gewünschten Änderung einzelner Klauseln bereit erklären. In aller Regel schlägt sich eine solche Bereitschaft auch in erkennbaren Änderungen des vorformulierten Textes nieder. Allenfalls unter besonderen Umständen kann eine Vertragsklausel auch dann als Ergebnis eines Aushandelns [im Einzelnen] gewertet werden, wenn es schließlich nach gründlicher Erörterung bei dem gestellten Entwurf verbleibt (BGH, Urteil vom 23.Januar 2003 -VIIZR210/01, BGHZ 153, 321; Urteil vom 3.November 1999 -VIIIZR269/98, BGHZ143,104,112).“

Randnummer 13:

„Darin tritt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zu Tage, dass die Beklagte ihre Bedenken gegen die von der Klägerin in den Vertrag eingeführte „bring-or-pay-Verpflichtung“ als Ergebnis des Verhandlungsprozesses aufgegeben und die Klausel schließlich als in der Sache gerechtfertigt in ihren rechtsgeschäftlichen Willen aufgenommen hat.“

Was wir festhalten können

Nach Analyse der Entscheidung BGH VII ZR 222/12 können wir festhalten:

  • Das „Aushandeln im Einzelnen“ ist ein mühsames Unterfangen. Um im Bild des sicheren Hafens zu bleiben: Die Zufahrt in den sicheren Hafen ist schwierig. Für diese Schwierigkeiten findet sich angesichts des Gesetzeswortlauts („im Einzelnen“) in § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB auch eine gesetzliche Grundlage.
  • „Aushandeln im Einzelnen“ scheidet von vornherein aus, wenn der Verwender die betreffende Klausel – wie tatsächlich im Fall BGH VII ZR 222/12 – als nicht verhandelbar bezeichnet.
  • Es ist aus Verwendersicht dringend zu empfehlen, dem Verhandlungspartner im gesamten Verhandlungsprozess in beweissicherer Form „auf Augenhöhe“ zu begegnen und alle AGB-kritischen Klauseln ausdrücklich als verhandelbar zu bezeichnen. Dazu gehört es mindestens, dem Verhandlungspartner den digitalen Entwurfstext in einem abänderbaren Format (z.B. Microsoft Word) und nicht als PDF zu übermitteln und in der Begleit-E-Mail den Vertragspartner oder seinen Anwalt zu bitten, den Entwurf zu prüfen sowie Anmerkungen und Änderungswünsche zum Vertragstext zu übermitteln.
  • Bei AGB-kritischen Klauseln empfiehlt es sich aus Verwendersicht weiterhin, diese dezidiert Klausel-für-Klausel zum Gegenstand der tatsächlichen Verhandlungen zu machen, z.B. auf Basis eines Schreibens, dass über den wirtschaftsrechtlichen Sinn und die Angemessenheit der betreffenden Klauseln aufklärt. Im Anschluss an eine solche Aufklärung muss in beweissicherer Form ein intensiver Dialog mit dem Verhandlungspartner geführt werden, der als gründliche Erörterung gewertet werden müsste. In diesem Dialog muss sondiert werden, ob der Verhandlungspartner alle relevanten Klauseln in seinen rechtgeschäftlichen Willen aufgenommen hat. Nur wenn am Ende protokolliert werden kann, dass und warum der Verhandlungspartner die betreffenden Klauseln aus freien Stücken akzeptiert, besteht eine begründete Aussicht darauf, dass die Gerichte die Klauseln als „im Einzelnen ausgehandelt“ ansehen werden. Wie der BGH ausgeführt hat, liefert die Änderung des Klauseltextes auf Veranlassung der anderen Seite ein sehr starkes Argument für ein „Aushandeln im Einzelnen“.
  • Wie aus der US-amerikanischen Vertragsgestaltungspraxis bekannt, können besonders kritische Klauseln auch in Großbuchstaben verfasst werden. Die äußere Form hindert zwar nach § 305 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht die Qualifikation einer Klausel als AGB. Ein Hervorhebung durch Großbuchstaben macht es dem Vertragspartner aber schwerer, im Nachhinein zu behaupten, dass er die Klausel nicht in seinen rechtsgeschäftlichen Willen aufgenommen habe.

Der sichere Hafen kann ausgebaut werden

Das in BGH VII ZR 222/12 erörterte Kriterium des „Aushandelns im Einzelnen“ ist nicht der einzige Ansatzpunkt für einen sicheren Hafen. Als Ansätze für einen weiteren Ausbau des sicheren Hafens kommen ergänzend in Betracht:

  • ein Verhandlungsdesign, bei dem die Klauseln von beiden Seiten gemeinsam gestellt werden
  • Vornahme vorrangiger individueller Vertragsabreden nach § 305b BGB
  • Ausschluss nach § 310 BGB – insbesondere bei Verwendung gegenüber Unternehmern (§ 14 BGB)

Der Autor wird den vorskizzierten Ausbau des sicheren Hafens in späteren Beiträgen erörtern.

Porträt Dr. Mark Odenbach

Autor: Dr Mark Odenbach

Dr. Mark Odenbach ist ein wirtschaftsrechtlicher Strukturierer, Vertragsgestalter und Wirtschaftsanwalt mit internationaler Ausrichtung. Er arbeitet mehrsprachig.

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 Aktualisiert am 18. Dezember 2020

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