Wenn das Zivilrecht einen Sachverhalt anders sieht, als er tatsächlich ist, spricht man von einer gesetzlichen Fiktion: Ein Sachverhaltselement, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt, wird vom Gesetz (oder der Rechtsprechung) hinzugedacht (fingiert). Der durch das Hinzudenken (die Fiktion) ergänzte Sachverhalt bildet sodann die Grundlage für die Ermittlung seiner Rechtsfolgen.
Teilweise werden gesetzliche Fiktionen aus dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben hergeleitet.
Eine diesbezüglich zentrale Regelung findet sich in § 162 BGB.
Die Vorschrift lautet:
§ 162 Verhinderung oder Herbeiführung des Bedingungseintritts
(1) Wird der Eintritt der Bedingung von der Partei, zu deren Nachteil er gereichen würde, wider Treu und Glauben verhindert, so gilt die Bedingung als eingetreten.
(2) Wird der Eintritt der Bedingung von der Partei, zu deren Vorteil er gereicht, wider Treu und Glauben herbeigeführt, so gilt der Eintritt als nicht erfolgt.
Ein weiteres Beispiel einer aus Treu und Glauben hergeleiteten Fiktion bildet die von der h.M. und der Rechtsprechung im Zusammenhang mit § 130 BGB bejahte Zugangsfiktion in Fällen, in denen der Adressat einer Willenserklärung deren Annahme unberechtigt verweigert.
In nachfolgenden Blogbeiträgen werden wir § 162 BGB und die genannte Zugangsfiktion genauer untersuchen. U.a. wollen wir dabei feststellen, wie mit diesen beiden spezifischen Fiktionen bei der vorsorgenden Vertragsgestaltung umzugehen ist.
Darüber hinaus interessiert uns die Frage, ob wir aus den beiden Fiktionen allgemeine bzw. verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse zu aus Treu und Glauben resultierenden Fiktionen gewinnen können.